Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2021

Emma Cline
~ Warum diese Typen so sind


Emma Cline war Mitte zwanzig, als ihr Debütroman große Aufmerksamkeit auf sich zog: „The Girls“ erzählte von einem Kult im Stil der Manson-Family und von einem Mädchenleben, das in der Hitze eines kalifornischen Sommers aus den Fugen gerät. Unter der flirrenden Oberfläche lugte ein größeres Thema hervor: das Formen weiblicher Identität in einer Männerwelt. Angeblich hatte Cline dafür einen Vorschuss von zwei Millionen Dollar bekommen – entsprechend groß fiel das Interesse an ihrer Person aus. Dann nahm der Hype eine unerwartete Wendung. Ein früherer Partner behauptete, Cline habe Ideen bei ihm abgeguckt, drohte, intime Fotos zu veröffentlichen, und engagierte die Anwälte von Harvey Weinstein. Obwohl ein Gericht die Behauptungen als haltlos abwies, lag eine düstere Ironie in der Tatsache, dass eine Autorin, die so erfolgreich über Machtgefälle geschrieben hatte, ausgerechnet auf diese Art angegangen wurde. Nun, knapp vier Jahre später, erscheint Clines zweites Buch. Die Geschichten in „Daddy“ sind bevölkert von in Ungnade gefallenen Chefredakteuren, abgeschriebenen Regisseuren und übergriffigen Fernsehköchen. Erfolgstypen, die stets im Licht standen und nun verblüfft feststellen, wie sehr sich die Spielregeln geändert haben. Die wenigen Frauen kommen aber kaum besser weg – ein ziemlich pessimistisches, sehr gutes Gegenwartstableau. Emma Cline, die gänzlich unpessimistisch wirkt, schaltet sich aus ihrem Wohnzimmer in Silver Lake zum Gespräch ein. An der Wand hängt ein Druck der Fotografin Emily Keegin. Es zeigt einen Oberschenkel mit einem fetten blauen Fleck drauf.

Viele Geschichten in „Daddy“ handeln von privilegierten Männern mit toxischen Manieren. Wieso knöpfen Sie sich diese Zeitgenossen vor?

Sie haben eine verdrehte Weltsicht, was sehr unterhaltsam sein kann. Menschen, die sich schlecht benehmen, sind aus literarischer Sicht reizvoll. Mich interessieren Machtdynamiken. Und es kann etwas sehr Befreiendes darin liegen, als junge Frau aus der Sicht dieser skrupellosen Typen zu schreiben.
Sie haben einmal gesagt, als Kultur müssten wir ständig deuten, was mächtige Männer denken.
Schon allein den letzten vier Jahren, als wir es in den Staaten mit einem bösartigen Narzissten als Präsident zu tun hatten. Die Psychose einer einzigen Person kann viel Schaden anrichten. Und im Zuge der MeToo-Bewegung haben wir gesehen, wie ganze Organisationen wegen der Taten einzelner Männer zerbröckelt sind. Dann kommen viele Menschen herbei und versuchen, den Schlamassel zu beheben. Und zu erklären, wie all das passieren konnte. Das soll natürlich nicht heißen, dass Frauen kategorisch die besseren Menschen sind.

Keiner Ihrer Protagonisten versteht sich als Übeltäter. Was steckt hinter der Neigung, sich selbst in die Tasche zu lügen?

Wir haben ganz falsche Vorstellungen von uns selbst. Die Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen, sind ein faszinierender Teil der menschlichen Psychologie. Für die meisten von uns wäre es unerträglich, uns so zu sehen, wie wir wirklich sind. Es ist schwer, den Gedanken auszuhalten, dass man anderen Menschen Schaden zufügt oder der Bösewicht in der Erzählung von jemand anderem ist. Deswegen legen wir uns unsere eigene Weltsicht zurecht: Ich hatte gute Absichten. Man hat mir Unrecht getan. Das haben wir bei Donald Trump gesehen, der sich im großen Stil als Opfer gefühlt hat. Auch Harvey Weinstein hat immer wieder gesagt: Ich bin unschuldig, wie kann so etwas in Amerika passieren? Das Interessante an der Literatur ist aber ihre Fähigkeit, über den Sensationalismus und das Klischee hinauszugehen. Etwa die Vorstellung, dass eine bestimmte Person ein Monster ist. Hinter jedem Skandal gibt es einen Menschen, der ein Bewusstsein hat und auf die Toilette geht, Limonade trinkt oder weinen muss. Ich möchte wissen, wie das aussieht.
In Ihrer Erzählung „White Noise“, die im New Yorker erschienen ist, wird Harvey Weinstein zur komischen Figur, die sich in einem luxuriösen Landhaus versteckt, fernsieht und Snacks isst. Hatten Sie nicht Bedenken, ihn zu nahbar zu machen? Anders gefragt: Warumfiktionale Empathie auf einen realen Täter ausdehnen?
Ich versuche nicht, ein moralisches Urteil zu fällen. Auf keinen Fall habe ich das Gefühl, eine reale Situation zu beurteilen. Ich glaube an die Fähigkeit der Fiktion, abseits der Realität zu stehen. Mich interessiert, wie eine Figur in einer Situation handeln würde. Ich mag schlechte Charaktere, ich mag moralische Zweideutigkeit. Es ist einfacher zu sagen: Diese Person ist böse, Punkt. Für mich ist es viel beängstigender, wenn man sagt: Dieser Mensch ist ein Mensch. Wie Sie und ich. Und trotzdem tut er diese schrecklichen Dinge. Er ist keine Karikatur, er ist real. Das entschuldigt oder verherrlicht in keiner Weise, was diese Leute tun. Es ist ein genauerer Blick auf sie.

Die Menschen in „Daddy“ verbindet nicht nur ihre flexible Moral, fast alle sind im Hollywood-Geschäft, kreative Typen, Manager und Gesundheitsgurus.

Ich verstehe Ruhm als Extremsituation, weil er einen unnatürlichen, cartoonartigen Filter über die menschliche Interaktion legt. Solche Ausnahmesituationen interessieren mich. Deswegen fühle ich mich von der gesteigerten Atmosphäre eines Filmsets angezogen. Und ein bestimmter Schlag kalifornischer Fantasten und Scharlatane wird für mich immer interessant sein.

Sind Sie deshalb zurück nach Los Angeles gezogen? Weil es dort mehr Geschichten bloßzulegen gibt?

Ich hatte in erster Linie vermisst, wie sich das Leben dort anfühlt. In New York ist man sich seines Umfelds jederzeit bewusst. Man fühlt sich fast wie in einer Schneekugel. Das kann sehr angenehm sein, aber auch beengend. Kalifornien und der Westen sind so viel seltsamer und bizarrer, auch, weil es mehr physischen Raum gibt. Während man anderswo immer Nachbarn hat, kann man hier wirklich ein Spinner sein.

Sie haben einmal gesagt: „Kalifornnien und seine Städte erscheinen mir völlig unwirklich.“ Was hatten Sie im Sinn?

Los Angeles ist eigentlich nicht sehr bewohnbar. Wenn man durch die Stadt fährt, sieht man überall extrem steile Hügel, auf denen verrückte, modernistische Häuser thronen. Man hat sie auf Stelzen ganz oben am Hang gebaut. Bei einem Felsrutsch stürzt alles ein. Es gibt auch nicht genug Wasser, dafür ständig Erdbeben. Eigentlich sollten hier keine Menschen leben, und doch tun wir es. Das hat etwas sehr Futuristisches an sich.

Wie meinen Sie das?

Die Auswirkungen des Klimawandels sind im Westen schon sehr akut zu spüren. Gerade herrscht zum Beispiel eine historische Dürre. Diese Dinge werden hier zuerst einschlagen, und zwar auf extreme Weise. In diesem Sinne ist Los Angeles stark mit der Zukunft verbunden. Außerdem ist in Los Angeles nichts peinlich. Das hat für mich etwas sehr Futuristisches, weil es wie das Internet ist. Wohingegen New York stark in Traditionen und Institutionen verwurzelt ist.

Dabei ist Los Angeles auch der Ort des totalen Egos, wo Menschen wie verrückt auf ihr Image achten.

Absolut. Das Internet ist ja ebenfalls ein Ego-Palast. Früher fand man es peinlich, ein Bild von sich selbst zu posten. Plötzlich macht es jeder. Das erinnert mich sehr an Los Angeles.

Sie sind in einer großen Familie im Sonoma Valley aufgewachsen. Wie war Ihre Kindheit? Manchmal klingt es, als hätten Sie auf einem eigenen Planeten gelebt.

Wir Kinder haben uns wie im Rudel bewegt, es gab ja so viele von uns: sieben Geschwister. In gewisser Weise fühlte sich das sehr isoliert an. Wir haben zwar nur eine Stunde entfernt von San Francisco gelebt, sind aber nie hingefahren. Die Landschaft drum herum war natürlich wunderschön, typisch Nordkalifornien: sanfte Hügel, Eichen und der Ozean. Ich sehe Überreste dieser Umgebung in meiner Arbeit. Da ist ein schöner Ort, aber er ist isoliert. Oder es gibt eine Unterströmung von Angst oder Dunkelheit. Dann natürlich die Gruppendynamik, wie in der Sekte von „The Girls“.

Dort fungiert der Kult als Ersatzfamilie. In „Daddy“ sind Verwandte meist eine Quelle der Enttäuschung.

Ich finde, wir idealisieren das Familienleben, dabei kann in ihm viel Dunkelheit liegen. Über- wie unterirdisch. Familien sind oft ein Ort von Grausamkeit. Man hat sie lange glorifiziert, auch wenn sich das gerade ändert. Die Generation meiner Eltern ist mit den Fernsehserien der Fünfzigerjahre aufgewachsen: eine Ehefrau im schönen Kleid, ein Ehemann, der von der Arbeit nach Hause kommt. Es gibt einen Jun- gen und ein Mädchen, und alle halten sich an ihre Geschlechterrollen. Man spricht nie außerhalb der Familie über die Familie. Dieses Bild hat für mich etwas Toxisches an sich.

In „Daddy“ ist der Wunsch nach Familienidylle mit einer Sehnsucht nach Vergangenheit verbunden. Ein Familienvater singt ein endloses Loblied auf die Prärie-Serie „Unsere kleine Farm“. Wie erklären Sie sich, dass Nostalgie in unserer Kultur gerade so präsent ist?

Die Kultur hat sich so schnell und tiefgreifend verändert, allein schon zu meinen Lebzeiten. Das Internet hat komplett umgekrempelt, wie wir miteinander kommunizieren und wie kulturelle Werte geteilt oder verbreitet werden. Ich sehe das Festhalten an der Welt von früher bei vielen Menschen. Je nachdem, wie sehr man sich an die Vergangenheit klammert, kann einen dieser Wandel verbittern oder wütend machen. In den Vereinigten Staaten herrscht ein regelrechter Kulturkrieg. Es gibt Menschen, die sich extrem über Identitätspolitik ärgern, und andere, die sie für längst überfällig halten. Für mich ergibt es Sinn, dass Nostalgie eine Strömung ist, die diese Figuren anzieht. Es ist ihre Art zu denken: Früher war es besser. Früher war ich besser.

In Ihrem Buch entsteht der Eindruck: Vieles daran ist auch Selbsttäuschung.

Generell interessiert mich die Fassade. Dinge, die von außen schön, gesund oder unschuldig erscheinen, an denen aber etwas faul sein kann. Deshalb auch der Titel „Daddy“, der einerseits ein völlig unschuldiger Begriff für eine lie- bevolle Beziehung ist. Andererseits finde ich es sehr bezeichnend, dass das gleiche Wort in Amerika eine ziemlich perverse, sexualisierte Bedeutung haben kann, die Macht beschreibt. Explizite sexuelle Macht. Diese Dichotomie berührt einen Nerv.

Als Ihr Debüt im Jahr 2016 herauskam, waren Sie Mitte Zwanzig, MeToo war noch nicht passiert. Sind Sie überrascht, wie stark sich die Perspektiven seitdem verändert haben?

Ich war damals verblüfft, wie zynisch manche Journalisten mein Bild von den Beziehungen zwischen Männern und Frauen fanden. Sie sagten: „Gut, diese Männer behandeln Frauen schlecht, aber das waren die Sechzigerjahre. Heute sieht alles ganz anders aus.“ Was mir offensichtlich nicht der Fall zu sein schien. Einige Leute hielten das Buch für eine Zeitkapsel. Dabei ging es mir um eine Dynamik, die ich immer noch sehe. Und erlebe.

Vor ein paar Jahren haben Sie einen Essay verfasst, der auch in dieser Zeitung erschien, darin hieß es: „Es ist genauso leicht, den Erfolg einer Frau zu einer Waffe zu machen, wie ihr Scheitern. Ist man erfolgreich, hat man mehr zu verlieren, wenn man den Mund aufmacht.“ Dann ist Ihnen Ähnliches passiert, als ein ehemaliger Partner versuchte, Sie mit einer Klage unter Druck zu set- zen. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Es war völlig schockierend. Ich konnte nicht fassen, dass ein Mensch zu so etwas fähig ist. Jetzt denke ich wenig darüber nach, aber damals war es sehr belastend. Und auch einfach seltsam. Schließlich ging es um meine Schriftstellerei, die so eng mit dem verbunden ist, was mich ausmacht.

Man hat auch versucht, Ihr Privatleben als Waffe einzusetzen.

Im Grunde war es revenge porn. Wenn ich zurückblicke, bin ich praktisch von Neuem erschüttert, dass jemand damit ein Forum finden kann. Natürlich wünscht man sich, dass das nicht passiert wäre.

Viele der Protagonisten aus „Daddy“ sind von ihrem Umfeld gecancelt worden. Wie bewerten Sie dieses Konzept, jemand öffentlich vorzuführen, abzuschreiben?

Es hat etwas sehr Altertümliches. Ich finde es skurril, auf gewisse Weise fast primitiv: Menschen aus der Herde auszustoßen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir gerüstet sind, damit im großen Ausmaß umzugehen. Wenn jemand von Hunderttausenden Menschen über das Internet gecancelt wird, kommt das einer Überlastung gleich. Wir legen den Schwerpunkt stark auf das schlechte Verhalten Einzelner, wollen Individuen bestrafen, anstatt strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Und gegen die Politik und die Organisationen vorzugehen, die es diesen Menschen ermöglichen, so zu handeln, wie sie handeln. Das erscheint mir manchmal wie fehlgeleitete Energie.

Für Musiker soll das zweite Album das schwierigste sein, gilt das Gleiche für Bücher?

Das Schöne ist ja, dass einige der Geschichten aus „Daddy“ vorher bereits in Magazinen wie dem New Yorker erschienen sind. Deswegen werfe ich nichts völlig Neues in die Welt. Dadurch fällt Druck ab. Älter werden hilft auch. Ich kann mich besser von Reaktionen distanzieren. Und das ist vermutlich immer eine gute Sache.