Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2021
Framing Britney Spears
~ Was sie verdient
Im Februar 2007 griff Britney Spears zum Elektrorasierer. In einem kalifornischen Friseursalon schor sich der damals größte Popstar der Welt eine Glatze. Durch die Fensterscheibe knipsten Paparazzi die Szene, doch Spears schien es nicht zu bemerken. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck zufriedener Entrücktheit, ähnlich dem eines Kindes, das im Wohnzimmer mit Streichhölzern zündelt. Und plötzlich merkt, dass es den Weihnachtsbaum abgefackelt hat. Die Fotos zeigten die Sängerin beim Versuch, ihr Spiegelbild von den Vorzügen des radikalen neuen Haarschnitts zu überzeugen – und wie sie damit scheitert.
Die Episode markierte einen Höhepunkt dessen, was manche die „Britney- Show“ nannten: eine Serie von Aussetzern des Megastars, in Echtzeit dokumentiert von Medien rund um die Welt. Je seltsamer Spears sich aufführte, desto frenetischer jubelte ihr Publikum. Sie galt als train wreck, als hoffnungsloser Fall. „Britney ist Gold wert, für unsere Leser ist sie wie Crack“, verkündete Har- vey Levin, der Gründer der Klatschseite TMZ, die innerhalb eines Jahres eine Gefolgschaft in Millionenhöhe um sich geschart hatte. Storys mit Spears zogen immer. Egal, ob sie vergaß, Unterwäsche zu tragen, ihr Make-up verschmierte oder bloß Fastfood kaufte.
Das ist vierzehn Jahre her. Aber es scheint eine halbe Ewigkeit zwischen damals und heute zu liegen. Das verdeutlicht die Dokumentation „Framing Britney Spears“, die von der „New York Times“ produziert wurde und ab April bei Amazon Prime läuft. Vordergründig geht es darum, wie die Sängerin eine Vormundschaft bekämpft, die ihr Vater über ihr Geld und ihr sonstiges Leben besitzt. Der Film führt aber auch vor Augen, wie extrem sich die Kultur in der Zwischenzeit geändert hat. Würde man sich heute über eine 25-Jährige amüsieren, der es so offenkundig gar nicht gut zu gehen scheint?
Spears ist nicht die einzige Figur der Popkultur, deren Image momentan eine Neubewertung erlebt. Zwischen #MeToo und Debatten um Empathie und psychische Gesundheit haben sich viele Perspektiven verschoben. Und damit auch, wie Menschen eingeordnet werden, denen kulturelle Bedeutung zuschrieben wird. Von Monica Lewinsky bis Janet Jackson werden Lebensläufe quasi retrospektiv neu aufgerollt.
Kaum eine Geschichte aber ist wie die von Britney Spears, die siebzehnjährig zu Weltruhm kam. Aufgewachsen in Kentwood im Bundesstaat Louisiana, übernahm sie im Popgeschäft der Jahrtausendwende die Aufgabe, das altbekannte Muster der verführerischen Unschuld zu verkörpern. Sie trug prinzipiell bauchfrei, sang doppeldeutige Texte und lobte christliche Werte. Die Mischung erwies sich als populär, denn sie entsprach einer Phantasie, die zugleich puritanisch und unendlich vermarktbar schien.
Ein paar Jahre lang funktionierte das. Spears, die ihre Karriere mit Starqualitäten begann (zu denen eine unermüdliche Arbeitsmoral, eine ehrgeizige Mutter und ein Jugendjob im legendären „Mickey Mouse Club“ des Disney Channels von ABC gehörten), erreichte mit ihren Platten vielfachen Platinstatus, schloss Sponsorenverträge mit Pepsi und sang beim Super Bowl. Ein Traum, wie er amerikanischer kaum sein konnte.
Die Dokumentation „Framing Britney Spears“ ist nun vor allem deswegen aufschlussreich, weil sie vorführt, in welch einem seltsamen Klima das alles stattfand: Der Grundton war zu gleichen Teilen moralisierend und sexistisch. Entsprechend strotzt der Film nur so vor unangenehmen Momenten. Etwa, wenn die einflussreiche Fernsehmoderatorin Diane Sawyer die Sängerin für das Scheitern ihrer Beziehung zu Justin Timberlake abkanzelt. Oder ein Journalist mittleren Alters die jugendliche Spears zu ihren Brüsten befragt. Konnte das vor kaum mehr als einem Jahrzehnt irgendwer ernsthaft in Ordnung finden?
Prinzipiell waren die frühen nuller Jahre eine durchwachsene Zeit für die Celebrity-Kultur. Vorbei war die Zeit diskret-glamouröser Home-Storys: Reporter begannen nun, die banalsten Aspekte im Alltag berühmter Menschen grell auszuleuchten. Prominente, so die Botschaft, sind auch bloß wie wir. Sie führen den Hund aus. Sie bekommen den Strohhalm nicht in die Coladose!
Neue Klatschmagazine und das plötzlich überall verfügbare Internet berichteten in aufgekratztem Ton. Sie bedienten ein dramatisches Narrativ: Es ging um Sucht, Verrat, untreue Partnerinnen und Partner, schlechte Frisuren, Essstörungen. Die emotionale Anziehungskraft dieser Stargeschichten bestand nicht mehr nur im Eskapismus, sondern auch darin, Abscheu und Empörung zu erzeugen. Je katastrophaler ein Star auseinanderfiel, desto besser funktionierte das Geschäftsmodell. Die Paparazzi-Branche expandierte.
Die höchsten Preise brachten Fotos von Britney Spears und Paris Hilton, der Hotelerbin, der man gern das Etikett anheftet, das „Fürs-Berühmtsein-berühmt-Sein“ erfunden zu haben. In Los Angeles feierten die beiden ausgiebig und theatralisch. Bei Britney Spears lief es da schon länger nicht mehr so toll. Ihre psychischen Probleme und Aufenthalte in Entzugskliniken wurden zur makabren Sensation. Fotografen folgten ihr auf Schritt und Tritt, immer in der Hoffnung, sie würde weinen oder schreien oder etwas anderes tun, das an ihrem Image kratzte.
„Framing Britney Spears“ zeichnet diesen Karrierebogen nun in einer Mischung aus retrospektiver Medienkritik und Mental-Health-Krimi nach. In einer Szene sieht man, wie Teilnehmer einer Gameshow zu ihrem Pop-Wissen befragt wurden. Frage: „Was hat Britney Spears dieses Jahr verloren?“ Richtige Antworten unter anderem: „Ihre Haare, ihre Kinder, ihren Verstand.“
Je näher der Film der Gegenwart kommt, desto undurchsichtiger wird es. Darum, wie es Spears geht, wird große Geheimniskrämerei betrieben. Seit 2008 steht sie unter der Vormundschaft ihres Vaters. Seitdem darf sie keine wichtige Entscheidung mehr treffen, egal, ob das ihr Vermögen betrifft oder einen Vertragsabschluss (weiterhin Millionenbeträge mit Auftritten in Las Vegas verdienen geht aber offenbar, davon werden die Verwalter bezahlt). Das allgemeine Schweigen erklärt, warum die Dokumentation (Regie: Samantha Stark) wie ein ferner Satellit um sein Subjekt kreist, das extrem öffentlich und zugleich hermetisch abgeschottet ist. Wohl auch darum liegt ein Augenmerk auf der Initiative „Free Britney“, die Spears aus ihrem vermeintlichen Rapunzeldasein befreien will. Wurden diese Fans früher belächelt, schließen sich ihnen nun berühmte Unterstützer an.
Denn das gesellschaftliche Klima hat sich stark verändert – zumindest vordergründig. Offiziell gilt das Gebot des Sich-gegenseitig-Empowerns. Das hat auch mit sozialen Medien zu tun, auf denen die Perspektiven diverser und ungefilterter sind. Natürlich sind damit Schadenfreude oder Frauenfeindlichkeit nicht aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden; sie sind bloß in die anonymen Kommentarspalten gewandert.
Prinzipiell aber sprechen Künstlerinnen und Künstler heute offener über ihre psychische Gesundheit. Und wenn sie sich Hilfe suchen, wird das eher beklatscht als belächelt. In der Generation Z gehört die Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen sowieso zum guten Ton. Wer sich verletzlich zeigt, wirkt glaubwürdig und sympathisch. Im Nachhinein sieht das Spektakel um Britney Spears von damals entsprechend unvorteilhaft aus. Und ziemlich fies. Das kann sich keiner mehr leisten. Verschiedene Medien haben sich deswegen inzwischen öffentlich entschuldigt, ebenso Britneys Exfreund Justin Timberlake.
Im Lüftchen einer neuen Zeit hat kürzlich auch Paris Hilton eine Dokumentation über ihr Leben veröffentlicht. „The Real Story of Paris Hilton“ soll ihren Ruf als oberflächliche Erbin ausräumen. Tatsächlich enthüllt er unbekannt Abgründiges, etwa zu Hiltons Zeit auf einem Internat für vermeintlich schwierige Kinder, das seine Schüler mit schwarzer Pädagogik zu brechen versuchte. Zum Glück aber endet der Film in Hiltons Apotheose zur extrem beschäftigten Businessfrau, die wahnsinnig viel Geld verdient.
Es ist eine ziemlich zeitgemäße Wandlung. Mag in den frühen nuller Jahren noch eine gewisse Anziehungskraft im ruinösen Lebenswandel eines sogenannten „It-Girls“ gelegen haben: Selbstbeherrschung und harte Arbeit am eigenen Ich haben das Chaos ersetzt. Wer kann, gibt sich aufgeräumt, funktional, geschäftstüchtig. Heute inszenieren sich Stars wie Kim Kardashian oder Gwyneth Paltrow als versierte Geschäftsfrauen. Sie verkaufen extraverstärkte Unterwäsche, Apps und Wellness-Produkte. Magazine haben diese Frauen sowieso nicht mehr nötig, denn sie überwachen das Bild, das sie in der Öffentlichkeit abgeben, mit Hilfe der sozialen Medien fast komplett. Es muss auch keine mehr im Fernsehen Rede und Antwort stehen. Die vermeintlich privaten Einblicke gibt es ohne Umwege auf Instagram, wo Fotos natürlich nie unbedarft, sondern makellos und durchdacht sind. Als Chefstrateginnen des eigenen Images vermarkten sie sich selbst, statt anderen die Bankkonten zu füllen.
Vielleicht macht auch das den Fall von Britney Spears so unerhört und gerade jetzt so virulent: Er erzählt vom ultimativen Kontrollverlust. Und vom Kampf um Deutungshoheit. Die Kontroverse um ihre Entmündigung debattiert nun womöglich sogar der amerikanische Kongress.