

Focus, 2020
Making the Cut
~ Die Heidimaschine
Nach Models und Dragqueens castet Heidi Klum jetzt Modedesigner. In der neuen Show „Making the Cut“ auf Amazon können Zuschauer die Looks direkt vom Bildschirm shoppen
Backstage herrscht Stress. Mit Bügeleisen und Stecknadeln ausgerüstete Menschen zupfen an Abendkleidern und Ledermänteln, andere stecken Säume und Schleifen fest. Sie alle sind da, um in Heidi Klums neuer Casting-Show zum Designer der Zukunft gekürt zu werden. Als wenig später das erste Model auf den Laufsteg tritt, erleuchten Scheinwerfer den Pariser Nachthimmel.
Supermodel Naomi Campbell und Carine Roitfeld, die frühere Chefin der französischen „Vogue“ und noch immer eine der einflussreichsten Personen im Modegeschäft, begutachten die Entwürfe der Show-Teilnehmer. Normalerweise zeigt an diesem Ort das Modehaus Saint Laurent seine Kollektionen. „Mein größter Wunsch geht in Erfüllung“, haucht eine Kandidatin. Im Hintergrund thront gelb der Eiffelturm. „Was für eine Kulisse!“, ruft Heidi Klum.
Die Casting-Show, um die es hier geht, heißt „Making the Cut“ und läuft auf Amazons Streaming-Portal Prime Video. Zwölf Modedesigner treten darin gegeneinander an, um den Grundstein für „die nächste globale Modemarke“ zu legen, wie Heidi Klum mantrahaft wiederholt. Damit das Geschäft dann auch anlaufen kann, wird dem Gewinner eine Million Dollar geschenkt.
Auch sonst hat man offenbar eine Menge investiert. Zu den Juroren gehören neben Campbell und Roitfeld der Designer Joseph Altuzarra, Nicole Richie, die früher eine Freundin von Paris Hilton war und heute eine eigene Kleidermarke betreibt, sowie die megaerfolgreiche italienische Influencerin Chiara Ferragni. Offenbar gibt man sich Mühe, in der Branche glaubwürdig rüberzukommen. Schließlich will Amazon mit der Show das Modegeschäft umkrempeln – zumindest sein eigenes.
Das Unternehmen von Jeff Bezos versucht schon lange, im lukrativen Luxusmodemarkt Fuß zu fassen. Bisher waren die Ergebnisse eher mäßig. „Making the Cut“ soll Amazons glamouröses Entertainment mit dem weniger glamourösen Einzelhandel verknüpfen. Denn im Anschluss an jede Sendung können die Zuschauer den erfolgreichsten Look der Folge sofort online kaufen. „Man liegt im Bett, schaut seine Lieblingssendung und klickt sich durch die Mode“, erklärt Heidi Klum das Konzept. „Wenig später hängen die Kleider im eigenen Schrank.“ Ein Traumszenario für Impulskäufer.
Heidi Klum hat in ihrer Karriere schon ausgiebig gecastet: Fotomodelle („Germany’s Next Topmodel“), Dragqueens („Queen of Drags“), verschiedenartig begabte Menschen („America’s Got Talent“). „Making the Cut“ ist das Ebenbild des Formats „Project Runway“, das sie in den USA lange mit dem Modeberater Tim Gunn moderiert hat. Privatsender rissen sich um die Show, die von Harvey Weinsteins Firma produziert wurde. Später strich der Sender Lifetime sie wegen des MeToo-Skandals um Wein- stein aus dem Programm. „Project Runway“ wanderte zurück zum TV-Kanal Bravo, der die Serie einst gestartet hatte. Klum und Gunn zogen weiter zu Amazon Prime.
Dort liefern sie nun die bewährte Mischung aus Ambition, Drill und Nervenzusammenbruch. Die Kandidaten jetten zwischen diversen Metropolen umher und entwerfen unter Zeitdruck Mini-Kollektionen zu vorgegebenen Themen. Gunn, der lange an der New Yorker Universität Parsons die Fakultät für Modedesign geleitet hat, verteilt mit strenger Miene Ratschläge. Seine nadelgestreifte Autorität steht im Gegensatz zu Klums aufgekratztem Enthusiasmus.
Das Teilnehmerfeld ist international und doch sehr unterschiedlich, was Style und Begabung betrifft. Die koreanisch-amerikanische Designerin Ji Won Choi macht Streetwear und hat bereits mit Adidas zusammengearbeitet. Der Mailänder Sabato Russo war einst ein Armani-Model und ist der Kategorie „Nachwuchsdesigner“ mit 64 Jahren seit einiger Zeit entwachsen. Esther Perbandt aus Berlin entwirft nur in Schwarz. Mit dabei ist auch ein Designer aus Los Angeles, der in jeden Look eine Lederjacke einbaut, und eine Kollegin aus Kansas, die Cocktail-Garderoben im Siebziger-Jahre-Stil entwirft.
Der Weg in Naomi Campbells Herz führt aber, wie sich bald herausstellt, über stark taillierte Kleider. Sonst gefällt ihr nicht so viel, was man ihr nicht verübeln kann. Campbell, die zu den erfolgreichsten Models aller Zeiten gehört, wirkt ziemlich unbewegt, während die Entwürfe der aufstrebenden Modeschöpfer paradieren. Gelegentlich hat sie Folkloristisches aus dem Business parat: „Wenn Krieg herrscht, überlebt der Schneider. Weil der Schneider schneiden kann.“
Die besten Aussichten auf eine hochkarätige Modekarriere dürfte der 24-jährige Belgier Sander Bos haben, der seinen Abschluss an der Royal Academy of Fine Arts in Antwerpen gemacht hat, wo Designer wie Dries van Noten oder Martin Margiela gelernt haben. Zurzeit verdient Bos seinen Unterhalt allerdings mit dem Grillen von Hamburgern. Seine Entwürfe sind überraschend, seltsam und technisch durchdacht. Fragt sich bloß, ob Amazon tatsächlich Konzeptualismus sucht. Wie, bitte, merkt Heidi Klum an, solle man im Alltag ein Kleid reinigen, dem Federn aus den Schultern wachsen? Pragmatismus muss sein, schließlich will man die Stücke am Ende für nicht mehr als 100 Dollar verkaufen.
Als Amazon vor einigen Jahren begann, Filme und Serien wie „Fleabag“ oder „Homecoming“ zu produzieren, sollte das Kunden binden und die Verkäufe auf der Website an- kurbeln. Bisher wurde in den Filmen allerdings kaum direkt für Produkte geworben. Eine Ausnahme gewährte man Popstar Rihanna, deren Unterwäschekollektion Savage x Fenty die Kundschaft erst in einer gestreamten Modenschau begutachten und dann bestellen konnte.
„Making the Cut“ ist also Amazons große Expedition in das Gebiet der Shopping-Unterhaltung. Zuschauer, die Amazons Streaming-Adapter Fire TV nutzen, sollen die Kleider direkt über den Fernseher kaufen können. Mit einer X-Ray-Funktion stoppt man dort eigentlich Szenen, um nachzuschauen, welche Schauspieler gerade im Bild sind oder welche Musik im Hintergrund läuft. Künftig wird offenbar auch ein Shopping-Feature integriert sein.
Das mag den Weg für weitere Verbindungen zwischen Amazons Filmstudios und seinem riesigen Warengeschäft ebnen. Wahrscheinlich erhofft man sich auch ein glanzvolleres Image. Sollte die Star-Power von Klum und Gunn abstrahlen, könnte sie Amazon in eine Plattform verwandeln, auf der Kunden Mode auswählen und sich nicht nur mit Büchern und Papiertaschentüchern eindecken.
Doch die Modeindustrie ist für Jeff Bezos eine harte Nuss. Zwar verkauft in den USA niemand mehr Kleidungsstücke als Amazon. Aber bei diesen Käufen geht es vor allem um unspektakuläre Basics wie Socken oder Yogahosen. Luxusmarken schreckt Amazon ab, weil sie ihre Produkte nicht zwischen Glühbirnen und Toastern platziert sehen wollen. Dass Drittanbieter angeblich einigermaßen unbehelligt Ware vom Graumarkt anbieten dürfen, hilft auch nicht unbedingt.
Im Verborgenen soll Amazon deshalb schon seit einiger Zeit an einem Online-Shop für Luxuslabels arbeiten. In Arizona baue der Konzern ein riesiges Warenlager, hieß es in Medienberichten. Zwölf Marken seien bereits an Bord. Welche das sind, weiß man nicht. Das französische Luxuskonglomerat LVMH, dem Modehäuser wie Louis Vuitton, Céline, Dior und Fendi gehören, soll eine Zusammenarbeit abgelehnt haben.
Dafür führt eben „Making the Cut“ ins Zentrum der Couture. „Ich wollte schon immer meine Mode in Paris zeigen“, sagt die Teilnehmerin Martha Gottwald aus Richmond in Virginia, deren Entwürfe ein eher dissonantes Konzept aus Pastellfarben, Pailletten und Rüschenzeug umsetzen. Wie sich herausstellt, hat sie für eine Aufgabe aber keine Kleider genäht, sondern bloß ein wenig Textil um die Körper zweier Models drapiert. Damit kommt man in Paris nicht weit. Und erbost zudem Naomi Campbell, die angesichts dieses Affronts gegen das jahrhundertealte Couture-Handwerk sauer bemerkt: „Dann können wir uns alle einfach ein Stück Stoff um die Brust knoten.“
Natürlich kann es als ziemlich unwahrscheinlich gelten, dass bei all dem am Ende eine ernst zu nehmende Modemarke herauskommt – ähnlich wie „Germany’s Next Topmodel“ in seiner vierzehnjährigen Geschichte kein Topmodel hervorgebracht hat. Darum geht es wohl auch nicht. Für die Casting-Show ist der Wettbewerb Selbstzweck. Was danach kommt, ist eigentlich egal. Hauptsache, alle strengen sich richtig an.
Entsprechend haben die Teilnehmer von „Making the Cut“ den Slang der Selbstverwirklichung verinnerlicht. Niemand wird müde, der Kamera zu versichern, diese Sendung sei die große Chance. „This is so me“, sagen die Kandidaten, wenn ihnen ein Entwurf gelingt. Der Designer soll Entrepreneur sein, er selbst ist sein Projekt. Entwürfe hin oder her – in dieser Logik ist das Gerangel um ein Business-Investment die ultimative Challenge.