Welt am Sonntag, 2020
Instagram Face
~ Makellos wie ein Selfie
Der Kardashian-Clan macht es vor, junge Frauen auf der ganzen Welt folgen. Wie Filter und Filler ein neues Schönheitsideal erschaffen
Früher sah Kylie Jenner eher unauffällig aus. Sie hatte eine mittelkleine Nase, mittelvolle Lippen und mittelschmale Augenbrauen. Dann wurde sie mit der Realityshow „Keeping Up with the Kardashians“ berühmt und zur milliardenschweren Make-up-Unternehmerin. Seitdem hat sich Jenners Aussehen dramatisch geändert. Sie besitzt jetzt die gleichen Gesichtszüge wie ihre Halbschwester Kim Kardashian und wie ihre Freundin, das Model Bella Hadid. Und wie diverse andere Models, Influencer und wohlhabende Menschen.
Der „New Yorker“ nannte es kürzlich das merkwürdigste Vermächtnis des vergangenen Jahrzehnts: das Auftauchen eines einheitlichen, Cyborgartigen Gesichts unter Frauen, die von Berufs wegen schön sind. Es ist das Ergebnis geschickt eingesetzter Bildbearbeitung und immer subtilerer chirurgischer Eingriffe. Diese Frauen haben winzige Nasen, sehr ausgeprägte Wangenknochen und volle Lippen. Ihre Haut wirkt poren- und faltenfrei. Cartoonhafte lange Wimpern säumen mandelförmige Augen. Weil es ein Gesicht ist, das online gut performt, hat man ihm den Namen Instagram Face gegeben.
Rund 95 Millionen Fotos und Videos werden jeden Tag bei Instagram hochgeladen. Seit die App vor gut einem Jahrzehnt auf den Markt kam, ist eine ganze Industrie aus dem Wunsch entstanden, sich selbst ins beste Licht zu rücken. Dabei helfen Filter und Bearbeitungstools, die eine spiegelglatte Haut verleihen oder Augen vergrößern und Nasen verkleinern. Das Programm Facetune, mit dem man Gesichter schmälern oder Kieferkonturen perfektionieren kann, hat sich millionenfach verkauft. Fast jeder, der sein Geld damit verdient, auf Social Media oder anderswo gut auszusehen, benutzt es. Und auch Normalbürger präsentieren sich online in einer verbesserten Version: glossy, schillernd und ein wenig surreal.
Mit der Realität hat diese digitale Gesichtsoptimierung wenig zu tun. Einige wollen das ändern.
„Was die Filter auf das Gesicht projizieren, wird auch im echten Leben immer öfter gewünscht“, sagt Volker Rippmann. Seine Praxis liegt am Berliner Gendarmenmarkt. Rippmann ist plastischer Chirurg, er betreibt eine weitere Praxis in Köln und hat für die Fernsehsendung „Beauty Docs“ Augenlider gestrafft und Lippen aufgepolstert. Bei ihm lassen sich Prominente verschönern, aber auch Menschen, von denen man auf der Straße nicht vermuten würde, dass sie ihr Aussehen einem Chirurgen anvertrauen. An diesem Nachmittag wartet ein Mädchen mit abgeschnittenen Jeans und runden Brillengläsern darauf, ins Behandlungszimmer gerufen zu werden. Eine blonde Frau verabschiedet sich beschwingt in den Aufzug.
„Menschen beschäftigen sich heute viel intensiver mit ihrem Aussehen als früher“, sagt Rippmann. Im Nebenzimmer hat er gerade für einen Mann mittleren Alters Falten unterspritzt. „Deswegen erleben wir einen Boom. Alle Eingriffe nehmen zu.“ Vor einiger Zeit stand eine Patientin mit gezücktem Telefon in der Praxis. Die Influencerin zeigte Selfies vor, die sie mit allerlei digitalem Werkzeug verschönert hatte. Das Filtergesicht mit den großen Augen und der glatten Haut wollte sie nun auch im echten Leben. Rippmann lehnte ab. Gerade hat er ein Buch geschrieben, es trägt den Titel „Wahnsinnig schön!“.
In der Werbung und in Modemagazinen sind retuschierte Fotos ein alter Hut, inzwischen aber kann jeder Bilder manipulieren. Ein paar Klicks sorgen für schmalere Taillen und einen makellosen Teint. Auf Instagram sind alle glücklich und erfolgreich – und dank Software auch besonders hübsch.
Der Psychologe Helmut Leder forscht an der Universität Wien zur Wahrnehmung von Schönheit. Er geht davon aus, dass Menschen jedes Gesicht abspeichern, das sie im Verlauf ihres Lebens zu sehen bekommen. Daraus bilden sie ein durchschnittliches Idealbild, einen Prototyp von Schönheit. Nie wurden so viele Bilder gesehen und internalisiert wie heute, sagt Leder. „Es spielt keine Rolle, ob klar zu erkennen ist, dass ein Foto manipuliert wurde: Man kann ein Gesicht nicht nicht als Gesicht wahrnehmen.“ In den Durchschnitt fließen also auch immer mehr künstliche oder gefilterte Gesichter ein. „Man muss davon ausgehen, dass sich das Schönheitsideal derzeit so schnell verändert wie nie zuvor.“
Wer sich ständig mit geschönten Bildern vergleicht, das haben Studien gezeigt, betrachtet sich selbst kritischer. Für manche ist es vom Filter zur Schönheits-OP nur ein kleiner Schritt. Die App Snapchat wurde zum Hit, weil sie ihren Nutzern auf Selfies neben digitalen Hundeohren auch ein aufpoliertes Aussehen verpasste. Als „Snapchat Dysmorphia“ beschreibt eine Untersuchung des Boston Medical Center nun das Phänomen, dass Menschen zum Chirurgen gehen, um so schön auszusehen wie ihre gefilterten Selbstporträts.
„Vielen reicht es nicht, sich online zu inszenieren“ sagte die Psychologin Ada Borkenhagen, die Schönheitsideale im digitalen Zeitalter untersucht. „Sie wollen das idealisierte Bild in die Realität umsetzen. Und gerade die minimalinvasiven Methoden der Schönheitsmedizin helfen dabei, den realen Körper dem idealschönen Selfie anzupassen.“
Denn der Fotoboom fällt zusammen mit einer Revolution in der ästhetischen Medizin. Früher waren schönheitschirurgische Eingriffe ein dramatisches Unterfangen. Sie waren teuer, schmerzhaft und risikoreich. Wer auf diesem Weg Fett oder Falten loswerden wollte, musste auf den OP-Tisch und brauchte hinterher Wochen oder Monate, um sich von der Prozedur zu erholen. Manchmal ließen sich C-Prominente fürs Fernsehen dabei filmen, wie sie für ihre Zielvorstellung von Schönheit litten.
Dann kamen Botox und sogenannte Filler mit Hyaluronsäure auf den Markt. Das Nervengift Botulinumtoxin legt Muskeln lahm und verhindert so die Faltenbildung, Hyaluronsäure ist eine körpereigene Substanz, die die Haut aufpolstert. Beide spritzt man unter die Haut, um sie zu glätten. Oft dauert die Behandlung bloß ein paar Minuten. Man kann sie sich in der Mittagspause verabreichen lassen und danach zurück ins Büro.
Und längst lassen sich nicht nur Falten auffüllen. Mit Hyaluronsäure kann man ohne Operation ganze Gesichter modellieren. Je nachdem, wo die Filler injiziert werden, entstehen kantige Kiefer und markante Wangenknochen, wo vorher keine waren. Nasenhöcker werden geglättet, Lippen aufgepolstert. Mit einem sogenannten Liquid Lift lassen sich die Gesichtszüge anheben. Manche Ärzte bieten komplette Facial Designs an, die das Gesicht ganzheitlich überholen. Wer bereit ist, genug Geld zu investieren, kann seine Proportionen völlig umformen. Die Arbeit des Chirurgen ähnelt der eines Bildhauers. Volumen werden modelliert wie eine Skulptur.
Das Modelabel Balenciaga schickte vor Kurzem Models mit Wangenprothesen und aufgeplusterten Lippen über den Laufsteg. Balenciagas Kreativdirektor Demna Gvasalia, der für seine Arbeit mit extremen Volumen bekannt ist, habe auch beim Thema Gesicht Grenzen und Proportionen verschieben wollen, hieß es. Das durfte man als Karikatur verstehen. Es zeigt aber auch, wie präsent das Filtergesicht schon ist.
Auch in die Praxis am Gendarmenmarkt kommen mehrmals täglich Patienten, um sich Hyaluronsäure verabreichen zu lassen. Die Methoden der Ärzte haben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Früher habe man noch direkt in die Falten gespritzt, sagt der Chirurg Volker Rippmann. Heute arbeitet man indirekt, hebt bestimmte Züge hervor. Das kostet je nach Aufwand zwischen 300 und 1500 Euro. Bot vor zehn Jahren bloß eine Handvoll Chirurgen und Dermatologen die Prozedur an, gehört sie mittlerweile zum Standardprogramm.
Im Idealfall kann man den Eingriff nicht erkennen. Am Ende sieht man einfach ein kleines bisschen anders, auf konventionelle Weise schöner aus. Übertrieben aufgespritzte Lippen mache heute fast keiner mehr, sagt Rippmann. Für ihn sind die Filler die nächste Stufe nach dem Friseurbesuch. Weil sie nach einer Weile von selbst wieder verschwinden, lasse sich auch einfach mal eine Laune befriedigen. „Als würde man sagen: Ich habe jetzt schlechte Laune, ich lasse mir die Haare schneiden.”
Die Suche nach dem perfekten Äußeren ist uralt, Menschen wollten immer schön sein. Dafür unterzogen sie sich schmerzvollen Prozeduren, sie quetschten ihre Füße in winzige Schuhe oder ihre Taillen in Korsetts. Und schon die Regenten vergangener Jahrhunderte ließen sich von ihren Porträtisten derart vorteilhaft in Öl malen, dass ihre Zeitgenossen sie kaum wiedererkannten. Doch nie zuvor war die Arbeit am optimalen Aussehen so wichtig. In Zeiten konstanter Selbstdarstellung gilt die Persönlichkeit als Marke und der Körper als Eigenkapital. Bei Tinder entscheidet allein das gute Foto darüber, ob sich Chancen auf ein Gespräch mit einem potenziellen Partner ergeben. „Menschen werden heute viel stärker als früher dafür verantwortlich gemacht, was sie aus sich machen“, sagt die Psychologin Ada Borkenhagen. „Man muss die eigene Identität offensiv zeigen und inszenieren.“ Früher ging man ins Fitnessstudio, heute modelliert man sein Gesicht neu. Alles ist machbar, alles ist work in progress.
Kaum jemand hat das Prinzip verinnerlicht wie die Kardashians, deren Geschäftsmodell auf einer Endlosschleife aus Inszenierung, Verwerfung und Neuerfindung von Images beruht. Kim Kardashian, die 2015 einen Bildband mit ihren gesammelten Selfies veröffentlichte, gilt als Blaupause des neuen Schönheitsideals. Auf Instagram tummeln sich unzählige Frauen, die wie ihre Doppelgänger aussehen. Auch der Rest der Familie ist wandlungsfähig. Größere Eingriffe hat sie stets abgestritten. Alles bloß Filter, Filler und Make-up. No big deal.
In der Attraktivitätsforschung hat man genau vermessen, was ein schönes Gesicht ausmacht. Bei Frauen gehören große Augen, ein makelloser Teint, eine Stupsnase und volle Lippen dazu, bei Männern eine ebenmäßige Nase und ein ausgeprägtes Kinn. Das Instagram Face ist die Extremversion dieses Ideals. Bisher war ein solches Aussehen denen vorbehalten, die es beim Thema Genetik besonders gut getroffen hatten. „Models und Schauspielerinnen waren meilenweit von uns entfernt“, sagt die Psychologin Borkenhagen. Annähern konnte man sich seinen Idolen nur bedingt. Man machte Sport, um den Körper in die gewünschte Form zu bringen, oder färbte sich die Haare. Das Gesicht aber ließ sich nicht grundlegend ändern. „Inzwischen können wir es fast jedem gewünschten Schönheitsideal anpassen. Das ist neu.“
Es hat auch verändert, wie junge Frauen Schönheit beurteilen. Wenn Volker Rippmann früher im Restaurant oder auf der Straße Schauspielerinnen begegnete, die er aus seiner Praxis kannte, nahmen die meist Reißaus. Niemand wollte mit einem Schönheitschirurgen gesehen werden, denn dass an der eigenen Attraktivität nicht alles natürlich war, behielt man für sich. Die Jüngeren gehen anders damit um. „Die winken einen eher noch herüber und erzählen ihren Freunden: Guck mal, das ist der Arzt, zu dem ich gehe. Es wird viel offener kommuniziert.“ Manchen gilt ein Eingriff sogar als Prestigeobjekt.
Auch in Deutschland steigt die Zahl der ästhetischen Eingriffe seit Jahren. Spitzenreiter sind mittlerweile die minimalinvasiven Eingriffe, laut einer Erhebung der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie ist die Nachfrage im Zeitraum von 2018 bis 2019 um knapp 40 Prozent gestiegen. Sie sind beliebt, weil sie als weitgehend ungefährlich gelten. Nach rund einem Jahr sind ihre Effekte wieder verschwunden, weil sich die Substanzen von allein abbauen. Allergische Reaktionen oder gar extreme Nebenwirkungen wie Erblindung sind so selten, dass viele das Risiko in Kauf nehmen.
Kylie Jenner hat ihr neues Gesicht in ein Milliardengeschäft verwandelt, indem sie es zum Aushängeschild ihrer eigenen Make-up-Linie machte. Ihr Instagram Face ist ein Markenzeichen. In den USA und Großbritannien verkaufen Ärzte sogenannte Kylie-Jenner-Pakete, die eine Ummodellierung im Stil des Realitystars versprechen. Dass Jenner im Fernsehen immer noch recht anders aussieht als auf Bildern, die sie selbst aufgenommen und bearbeitet hat, spielt kaum eine Rolle. Wer früher mit dem Illustriertenfoto eines Hollywoodstars zum Friseur ging, verlangt jetzt Jenner-Lippen und Jenner-Wangenkonturen.
Instagram, die App, der das Phänomen seinen Namen verdankt, hat derweil ein paar Filter verboten. Sie trugen Namen wie „Plastica“ und „Fix Me“ und hatten sich rasant verbreitetet. Ihre Nutzer ließen sie aussehen, als kämen die direkt vom plastischen Chirurgen. Blaue Flecken inbegriffen.