Interview Magazin, 2016
John Irving
~ “Können wir bitte alle erwachsen werden?”
Eigentlich hätte John Irving gern öfter bessere Laune. Doch weil die Welt ist, wie sie ist, muss er sich aufregen. Seit 40 Jahren schreibt der Amerikaner in seinen Romanen gegen Dummheit und Ignoranz an. Ach, würde man doch nur häufiger auf ihn hören!
Herr Irving, verraten Sie mir die Bedeutung des Tattoos, das Sie dort am Ellenbogen tragen?
Das ist der Startkreis einer Ringermatte, nur eine kleine persönliche Erinnerung. Hier habe ich noch eins, insgesamt sind es sechs. Für einen meiner Romane habe ich übrigens selbst das Tätowieren gelernt, was gar nicht so einfach ist. Sich tätowieren zu lassen ist ja nicht schwer, man sitzt einfach still. Aber bis ich so weit war, dass ich andere tätowieren konnte, habe ich über ein halbes Jahr gebraucht.
Was hat Ihnen geholfen?
Ich habe auf Fischen geübt. Man tätowiert einen frischen Fisch, bevor man sich an einem menschlichen Arm oder Bein versucht.
Probieren Sie stets die Dinge, über die Sie schreiben?
Nein, man muss ja kein aufregendes Leben führen, um ein guter Schriftsteller zu sein. Melville zum Beispiel war Kontrolleur beim Zoll. Ich glaube nicht, dass das außerordentlich spannend war, jedenfalls wurde ihm nicht das Bein von einem Wal abgebissen. Aber mit Moby Dick hat er einen besseren Roman über den Walfang geschrieben als jeder Walfänger, den ich kenne.
Für die Recherche zu Ihrem Roman Straße der Wunder haben Sie immerhin in einem indischen Zirkus gelebt.
Ja, das war im Januar und Februar 1990. Bei meiner Freundin Mary Ellen Mark hatte ich zum ersten Mal Bilder von indischen Kinderartisten gesehen. Seitdem hat mich diese Welt der Zirkusse fasziniert. Also bin ich mit Mary Ellen und ihrem Mann, dem Filmemacher Martin Bell, durch Indien gereist. In Junagadh haben wir mit dem Great Royal Circus gelebt. Dort habe ich die Artisten beobachtet, vor allem bei den gefährlichen Nummern, denen ohne Sicherheitsnetz. Sieben Jahre später haben Martin und ich dann die mexikanischen Zirkusse von Oaxaca besucht.
Wo Sie den Roman schließlich angesiedelt haben: Er handelt von einem Zirkuskind, das erst in einem jesuitischen Waisenhaus landet und dann von einem schwulen Paar adoptiert wird – in Mexiko, in den 70er-Jahren. Eine ungewöhnliche Kombination.
Für die aber auch ein Wunder nötig ist! Ich musste eine Marienstatue Tränen vergießen lassen, um das hinzubiegen. Sonst würde die katholische Kirche wohl nie eine 14-jährige Waise in die Obhut eines schwulen Paars geben. Sie lieben ihn, sie werden ihm gute Eltern sein. Aber meine Einschätzung ist: Es bräuchte ein Wunder, damit das passiert.
Homosexuelle und Transgender bevölkern Ihre Romane schon seit den Siebzigern. Waren Sie Ihrer Zeit voraus?
Als ich vor 40 Jahren Garp und wie er die Welt sah schrieb, war das eine Reaktion auf meine Enttäuschung über die sogenannte sexuelle Revolution. Ich dachte mir: Von welcher Befreiung sprecht ihr überhaupt? Die Menschen hassen sich doch immer noch für ihre sexuellen Unterschiede. Ich fühlte mich aber auch ein wenig blöd, denn ich dachte, ich würde sehr viel Zeit in eine Geschichte stecken, die in ein paar Jahren überholt sein würde. Das war naiv. Ich war überzeugt, dass Garp fünf oder zehn Jahre später, ganz sicher aber zu meinen Lebzeiten, wie ein historisches Relikt aussehen würde. Und es spricht nicht gerade für diese Welt, dass das nicht der Fall ist. Ich bin nicht froh darüber, Garp als Miniserie für HBO zu adaptieren. Ich würde es nicht tun, wenn sexuelle Unterschiede allgemein akzeptiert würden.
Sie sehen keine Verbesserung?
Es hat sich nicht viel getan. Die Republikaner wollen Transgender-Kindern verbieten, bestimmte Toiletten zu benutzen. Das letzte Mal, als wir so etwas getan haben, haben wir Schwarzen vorgeschrieben, ihre eigenen Badezimmer zu benutzen. Mit anderen Worten: Ich finde mich nicht besonders schlau, weil ich vor 40 Jahren auf der Seite von Schwulen und Lesben und Transgender stand. Ich finde die Welt dumm, weil sie nach all diesen Jahren immer noch nicht auf ihrer Seite steht. Es ermüdet mich. Diskutieren wir tatsächlich immer noch darüber? Maßen wir uns immer noch an, Menschen vorzuschreiben, welche öffentliche Toilette sie benutzen dürfen? Können wir bitte einfach alle erwachsen werden?
Sind Sie beim Thema Frauenrechte optimistischer? Die Frauen sind ja die eigentlichen Helden Ihrer Bücher.
Nicht unbedingt. Schauen Sie sich das Thema Abtreibung an. Als ich Gottes Werk und Teufels Beitrag schrieb, fragten viele meiner feministischen Freunde: Warum schreibst du über diese schlimmen Zeiten, als ein Schwangerschaftsabbruch illegal war? Abtreibung ist doch in den USA gerade legalisiert worden. Es wird alles gut. Und ich sagte: Nein, es wird nicht gut. Die Abtreibungsrechte werden auf ewig untergraben werden. Diese eine Sache wird die katholische Kirche sich nicht nehmen lassen. Traurigerweise hatte ich recht.
Wie erklären Sie sich das?
Ich war immer der Meinung, dass die männliche Welt die Frauen kleinhält, indem sie sie zu Sklaven der Geburt macht und ihnen keine Kontrolle über ihre eigene Fortpflanzung gibt. Frauen der Geburt zu unterwerfen ist ein Mittel, sie zur sexuellen Minderheit zu machen. Ich habe mir nie Illusionen darüber gemacht, dass sich das ändern würde. Der Widerstand gegen die Abtreibung ist heute noch fester verwurzelt als damals.
Manch ein Kritiker wirft Ihnen vor, dass Sie sich mit diesen Themen wiederholen.
So lange sich diese Dinge nicht ändern, müssen sie der Gesellschaft unter die Nase gerieben werden. Wenn ich von meinen Kritikern lese, „Oh, er fängt schon wieder damit an“, frage ich mich wirklich, wie viel von der echten Welt sie in letzter Zeit so gesehen haben. Ich schreibe nicht zum Spaß über diese Dinge.
Fühlen Sie als Schriftsteller eine politische Verantwortung?
Nein, wenn Sie Verantwortung sagen, dann bedeutet das ja, dass jeder Autor es genauso machen müsste. Das sage ich nicht. Ich erwarte nicht von unpolitischen Menschen, dass sie politisch sind. Nicht alle meine Romane waren politisch. Wenn ich ein Buch schreibe, das in Mexiko und in einem jesuitischen Waisenhaus spielt, dann ist es das zwangsläufig. Aber ich fühle mich nicht verpflichtet.
Auch nicht in Zeiten einer erstarkenden Rechten und eines möglichen US-Präsidenten Donald Trump?
Ich bin ja kein zeitgemäßer Schriftsteller. Sie müssen sich mal vorstellen, dass ich acht bis zehn Jahre für einen Roman brauche, wenn man die Jahre mit einrechnet, die ich über ihn nachdenke, bevor ich überhaupt anfange. Ich schreibe nicht über Zeitgeschehnisse wie Donald Trump. Mein Interesse für die amerikanisch-mexikanische Geschichte ist ungefähr 25 Jahre älter als Mr. Trumps dumme Idee, eine Mauer auf die mexikanische Grenze zu bauen. Ich bin wahrscheinlich der langsamste Autor der Welt.
Über wie viele Romane denken Sie gerade nach?
Ich habe zwei Romane im Kopf, die ich morgen beginnen könnte. Und nach denen noch drei weitere.
Am Ende von Straße der Wunder steht der Tod Ihrer Hauptfigur. Beschäftigt Sie Ihr eigener Tod?
Ich habe mir zwar viele Gedanken über den Tod meines Protagonisten gemacht, aber soweit bin ich viel zu beschäftigt, um über meinen eigenen nachzudenken. Ich finde übrigens, dass er ein ziemlich gutes Ende hat. Er hat Sex mit seinen zwei Todesengeln und stirbt, während sich ein ergebener Schüler um ihn kümmert. So viel Glück muss man erst mal haben. Keine schlechte Art zu sterben.