Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2022

Lauren Oyler
~ Alles ist extrem gegenwärtig


Die Amerikanerin Lauren Oyler ist bekannt für ihre heftigen Verrisse. Mit Vorliebe zerlegt sie Bücher, die andere brillant und symptomatisch für „unsere Zeit“ finden; die von Sally Rooney oder Roxane Gay beispielsweise. Ihre Kritik an Jia Tolentinos gefeierter Essaysammlung „Trick Mirror“ lockte angeblich so viele Leser an, dass die Website des „London Review of Books“ kollabierte. Oyler warf der Autorin darin Selbstbezogenheit und unsauberes Denken vor. Die Überschrift: „Ha ha! Ha ha!“

Wer sich so vorwagt, läuft als Debütautorin natürlich Gefahr, selbst zur Zielscheibe zu werden. Gerade ist Oylers Roman „Fake Accounts“ in deutscher Übersetzung erschienen, und man kann es ironisch finden, dass er der Kategorie des zeitgeistigen, hypermodernen Gegenwartswerks selbst so genau entspricht. Was nicht bedeuten soll, dass er nicht funktioniert: Oyler ist gut darin, Menschen und Atmosphären auf den Punkt zu bringen. In erster Linie aber handelt ihr Buch vom bewusstseins- und beziehungsverändernden Effekt des Internets. Und vom Zustand „kribbeliger, panischer Langeweile“, der jene ereilt, die „sehr online“ sind.

Der Ton ist entsprechend: ironisch und extraschlau, getragen von Abgeklärtheit und Selbstzerfleischung. Es ist eine Stimme, die man von Twitter kennt. „Ich ertrage einfach den Gedanken nicht, ich könnte irrational erscheinen, von Gefühlen davongetragen“, erläutert die namenlose Erzählerin, die als Autorin für eine hippe Website arbeitet (unter anderem weil sie den korrekten Einsatz von Semikolons beherrscht). „Ich glaube, es schadet der Sache des Feminismus. Und, schlimmer noch, lässt mich persönlich schlecht aussehen.“

Oyler hat einige Punkte, die sie machen will. Es geht um Selbstinszenierung und die Konstruktion von Images, deren Wirkung und mögliche Verwerfung immer schon einkalkuliert ist. Man hat das „Scamming“, also das Andere-hinters-Licht-Führen, zum Modus Operandi der Millennial-Generation erklärt. Und so bekommt man von Oylers Erzählerin nie einen Gedanken, dessen Publikumseffekt nicht bereits antizipiert wurde. Alles ist Performance, im echten Leben und online. Wenn das nicht genug Reflexion ist, darf auch noch ein imaginierter Chor von Ex-Freunden seinen Senf dazugeben.

Die Handlung beginnt in New York. Es ist 2017, und die Amtseinführung von Donald Trump steht bevor. Nachts stöbert die Erzählerin im Handy ihres Freundes herum und entdeckt, dass er ein Doppelleben führt. Allerdings hat dieser Felix keine Affäre, sondern einen populären Instagram-Account, mit dem er Verschwörungstheorien über 9/11 und Chemtrails verbreitet. Endlich gäbe es einen Grund, die schale Beziehung zu beenden. Doch statt den Feind im eigenen Bett abzuservieren, entschließt sich die Erzählerin, das „schwerelose Gefühl“ ihrer Überlegenheit noch etwas auszukosten: „Ich wollte mein Blatt unbedingt auf die absolut beste Art spielen.“

Zur Konfrontation kommt es nie, weil Felix bei einem Fahrradunfall stirbt. Weniger traurig als perplex, dass man sie um eine Erklärung und, wichtiger, um ihren Triumph gebracht hat, reist die Erzählerin nach Berlin, wo das Paar sich kennengelernt hatte. Viel mehr passiert eigentlich nicht. Sie ver- bringt ihre Zeit auf Twitter und OK Cupid. Sie geht auf Dates und erfindet jedes Mal andere Lügen über sich selbst; mit mäßigem Erfolg. „Diese Leute wollten nur über sich selbst reden. Sie gaben mir keine Chance, über meine Figuren zu reden.“

In einem Roman, der versucht, das von Doomscrolling und Dauernachrichten durchgerüttelte Bewusstsein einzufangen, hängt viel davon ab, was sich mit der spärlichen Dramatik des Klickens, Likens und Wischens anstellen lässt. Eigentlich ist es verwunderlich, wie wenig sich der Einfluss des Digitalen bisher in der Literatur niedergeschlagen hat, schließlich ist das Internet nicht nur eine Technik, sondern ein Zustand, der unseren Alltag durchdringt wie Quecksilber. Wenn sich Menschen bei Sally Rooney abends an den Computer setzen, um einander seitenlange E-Mails zu schreiben, wirkt das seltsam altmodisch. In „Fake Accounts“ geht die berauschende, betäubende Qualität von Social Media fließend in das Geschehen über, ähnlich wie in Patricia Lockwoods nun ebenfalls auf Deutsch erschienenem Roman „Und keiner spricht darüber“. Oylers Beobachtungen sind zwar nicht immer neu, aber pointiert und amüsant.

Es gibt auch zahlreiche literarische Verweise, etwa zu Katie Kitamura oder Elif Batuman (deren Roman „Die Idiotin“ in der deutschen Übersetzung aber kurzerhand unterschlagen und zu einem dostojewskihaften „Idioten“ wird). Eine lange Passage parodiert den fragmentarischen Stil von Schriftstellerinnen wie Maggie Nelson und Jenny Offill. Oyler kann diesem Duktus offenkundig wenig abgewinnen, was dem Experiment nicht guttut. Es ist der schwächste Teil im Buch.

Wie ihre Erzählerin hat Lauren Oyler für eine schnelllebige Website gearbeitet („Vice“) und in Berlin gelebt. Sie hat auch Bücher mit Alyssa Mastromonaco geschrieben, die einmal stellvertretende Stabschefin von Präsident Obama war. Im Roman ist ihre Protagonistin eher ein Typus als ein Charakter: eine junge Frau in einem angesagten Stadtteil, mit literarischen Ambitionen und einem schlechten Gewissen, wenn sie ein schickes Yogastudio besucht. Alles ist extrem gegenwärtig. Es gibt aufwendige Hautpflegeroutinen, Ghosting und eine um sich greifende Vorliebe für Astrologie. Der „Women’s March“ in Washington wird zum Gegenstand einer unterhaltsamen Episode. Natürlich denkt die Erzählerin über ihre Privilegien nach: „Nach der Wahl kam es einem – für kurze Zeit – weniger grässlich vor, eine weiße Frau, die in Brooklyn wohnte, zu sein; die weißen Frauen, die in Brooklyn wohnten, waren letzten Endes nur nervtötend, ahnungslos und störend; sie waren nicht das größte Problem.“

Das größte Problem des Buchs liegt in seiner routinierten Distanz. Oylers Erzählerin beschreibt sich als „rückschrittliche Zynikerin“, als „toxische Präsenz“ im Angesicht einer neuen rechtschaffenen Emotionalität. Mit teflonartiger Überlegenheit urteilt sie ihre Umgebung ab. Andere Charaktere wirken mitunter wie Pappaufsteller, die bloß dazu dienen, ein Argument anzubringen. Sie sagen seichte Dinge über Wellness und moderne Beziehungsformen, um von der Erzählerin widerlegt zu werden. Sie ploppen auf und verschwinden, unbelebt. Auch die eher ungewöhnliche Verschwörerkarriere von Felix ist keiner weiteren Nachforschung wert.

Gegen Ende von „Fake Accounts“ gibt es eine Szene, in der sich die Erzählerin mit einer anderen Amerikanerin, Nell, zu einer Art Schreibwerkstatt trifft. Nells Ansatz, der den Plot in den Mittelpunkt stellt, weil Stil „nicht so ihr Ding“ ist, sorgt bei der Erzählerin für das bekannte Stirnrunzeln. Lauren Oyler gewichtet genau andersherum: Stil ist ihr Ding, und sie beherrscht ihn. Doch das clevere Argument übertrumpft immer die Handlung. Und die ist für einen Roman ja auch nicht ganz unerheblich.