Focus, 2021
Rachel Cusk
~ Im Exil
Die Britin Rachel Cusk gilt als streitbar und brillant. Nachdem sie England aus Protest gegen den Brexit verlassen hat, nimmt sie in „Der andere Ort“ Künstleregos unter die Lupe
Seit dem Sommer lebt die Schriftstellerin Rachel Cusk in einem fremden Haus. In Paris hat sie eine weitläufige Wohnung gemietet, Saint-Germain-des-Prés, Blick auf die Kirche Saint-Sulpice. Drinnen steht Mobiliar, das nicht ihr gehört. Rosa Vorhänge, Ölbilder und ein Flur mit verschnörkelter Tapete. Hierhin haben sich Cusk und ihr Mann, der Künstler Simeon Scamell-Katz, vor dem Brexit geflüchtet.
Die Autorin, berühmt für ihre kühl kalkulierten Bücher, hat schon oft über die Bedeutung von Unterkünften nachgedacht. In ihrem Roman „Transit“ etwa, wo eine Frau mit wachsender Verzweiflung versucht, eine baufällige Londoner Altbauwohnung zu renovieren. Ihr Essay „Making Home“ zeigt, wie ein Zuhause die Ambitionen seiner Bewohner entlarvt. Von all diesem Ballast fühlt sich Cusk nun auf einen Schlag befreit.
„Es ist eine riesige psychologische Erleichterung, im Haus von jemand anderem zu wohnen“, sagt sie und zieht an einer E-Zigarette. Nie kommt ihr dort der Gedanke, dass etwas nicht ganz richtig aussieht. Sie rückt keine Möbelstücke umher. „Mein Inneres und mein Äußeres sind sehr glücklich voneinander getrennt.“
Auch Cusks neuer Roman „Der andere Ort“ behandelt die Tücken von Häuslichkeit und Gastfreundschaft, wenn auch nur an der Oberfläche. Dazu geht es um Malerei, Künstleregos und verheerende Landschaften, Männer, Frauen und die Schlachtfelder, die zwischen ihnen liegen. Anders als die distanzierte „Outline“-Trilogie, die Cusk in den vergangenen Jahren als eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen etabliert hat, besitzt das Buch eine rätselhafte, fast mystische Qualität. Das tut der Präzision ihrer Sprache keinen Abbruch; sie formt immer noch Sätze, die sich anfühlen wie aus Glas geschnitten.
Der Roman erzählt aus der Perspektive von M., einer Frau mittleren Alters, die mit ihrem Mann Tony am Rande einer Marsch lebt. Früher einmal hatte sie ihr Leben an einen Abgrund geführt, Rettung glaubte sie damals in den Gemälden des Malers L. zu finden, die sie in einer Galerie in Paris sah. Die vermeintliche Seelenverwandtschaft treibt sie noch Jahrzehnte später um.
Und so entschließt sie sich, L., der längst ein Kunststar ist, einzuladen, einen Sommer lang in ihrem restaurierten Gästehaus zu arbeiten. Er soll die Natur malen, die sich in der Gegend so geheimnisvoll erstreckt, aber irgendwie auch M.s Rastlosigkeit heilen. Die Hoffnung, so viel sei gesagt, wird nicht eingelöst.
Zwar lässt L. sich zum Kommen bewegen, er entpuppt sich aber schnell als unerträglich selbstverliebter Zeitgenosse. Obendrein reist er mit einer jungen, schönen Begleitung an, ein Umstand, der M. aus der Fassung bringt, weil sie doch diejenige sein sollte, die an L.s Vision teilhat. Wird er sie trotzdem malen? Da in der Welt auch noch ein „globales Pandämonium“ wütet, stoßen M.s erwachsene Tochter Justine und ihr Freund Kurt hinzu, und aus der kultivierten Artist Residence wird bald ein Drama emotionaler Spitzfindigkeiten.
Cusk, 1967 in Kanada geboren, zunächst in Los Angeles aufgewachsen, als Kind nach Großbritannien verpflanzt und später in Oxford ausgebildet, hat sich oft an weiblichen Rollenklischees abgearbeitet. Das hat ihr nicht nur Beifall eingebracht. In England, dem Land, dem sie nun den Rücken gekehrt hat, gilt sie als kontrovers, was vor allem an zwei autobiografisch gefärbten Büchern lag.
Da war „Lebenswerk“, im Original aus dem Jahr 2001, das von ambivalenten Muttergefühlen handelte und wütende Kritiker und Mommy-Blogger auf den Plan rief. In „Danach“ sezierte sie das Scheitern ihrer damaligen Ehe, man fand sie daraufhin ichbezogen und kalt. „Seitdem ist mir völlig gleichgültig, was die Leute über meine Arbeit denken. Es kümmert mich nicht, ob sie meine Bücher mögen oder hassen“, sagt Cusk, ehe sie kurz überlegt. „Jedenfalls sage ich das immer. Ich erlaube mir nicht, mich davon beeinflussen zu lassen.“
Einen Effekt gab es dann augenscheinlich doch, denn in den folgenden Jahren schrieb sie mit „Outline“, „Transit“ und „Kudos“ drei Bücher, die in ihrem stählernen Minimalismus so neu wirkten, dass der „New Yorker“ sich zu der Aussage hinreißen ließ, Cusk habe den Roman grundrenoviert. Das erzählende Ich, eine Schriftstellerin namens Faye, tritt darin nur als Umriss in Erscheinung: durch die Geschichten, die andere ihr vortragen. In gewisser Weise hatte Cusk sich selbst aus dem Werk redigiert.
Mit „Der andere Ort“ kehrt sie nun in ein klassischeres, wenngleich ebenfalls akribisch arrangiertes Set-up zurück. Es befindet sich in einem traumartigen Vakuum, denn nie ist wirklich klar, in welcher Zeit oder in welchem Land der Roman spielt. Als Leser trudelt man durch die Gedanken von M., die oft unterhaltsam und scharfsinnig sind, aber auch ans Ende des Rationalen driften.
Als Vorlage dafür diente Cusk ein Buch der amerikanischen Kunstmäzenin Mabel Dodge Luhan aus dem Jahr 1932. Es beschreibt einen nervenaufreibenden, zwei Jahre dauernden Besuch des britischen Schriftstellers D.H. Lawrence auf ihrer Ranch in New Mexico. Diese Grundkonstellation nutzt Cusk als Hülse, in der sie ihre eigenen Themen verstaut. Sie habe, sagt sie im blendweißen Morgenlicht ihres Wohnzimmers, nach einer Stimme gesucht, die die Erfahrung von Frauen in der zweiten Lebenshälfte spiegelt. „Das ist eine Landschaft, die als völlig eigenschaftslos gilt. Es gibt dort keine Midlife-Crisis mit Motorrad oder die Verliebtheit in eine jüngere Person. Da ist gar nichts.“
Während L. immer größte Autonomie genossen hat, ohne es zu merken, fühlt M. sich vom Schicksal ausgetrickst. „Mein Leben lang“, bilanziert sie, „habe ich mich nach Freiheit gesehnt, aber in Wahrheit habe ich nicht einmal einen kleinen Zeh freibekommen.“ Das Cottage, das der launische Künstler nun besetzt, bekrittelt und bekritzelt, wird zum Symbol für den Platz, den sie selbst nie einnehmen konnte.
Für Cusk hat sich der Ortswechsel dagegen günstig gefügt. Der Umzug über den Kanal, als politische Geste gemeint, war ein persönlicher Glücksgriff. Während ihr die Menschen in England zuletzt vor allem wütend vorkamen, wirkt die Förmlichkeit der Franzosen beruhigend.
„Natürlich ist das hier“, sagt Cusk und deutet auf die Umgebung, in der sie sitzt, „auch ein sehr privilegiertes kleines Museum.“ Ein Haus kann eben alles Mögliche zugleich sein: ein Einblick in das Leben eines Fremden, ein Platz für künstlerische Visionen und eine erstklassige Immobilie.