Focus, 2019

Rachel Kushner
~ Auf Höllenfahrt



Vor einigen Jahren stand die Schriftstellerin Rachel Kushner in einer winzigen Zelle im kalifornischen Gefängnis New Folsom. Sie besuchte dort einen früheren Polizisten aus Los Angeles, der lebenslänglich einsaß. An die Wände hatte er Fotos seiner zwei Harley-Davidson-Motorräder gepinnt.

Kushner wollte damals etwas über das Leben hinter Gittern erfahren, und ein befreundeter Kriminologe hatte sie eingeladen, ihn und seine Studenten zu begleiten. Als die Gruppe weitergezog und sie mit dem Häftling allein war, begann der zu reden. „Er erzählte mir von den Menschen, die er ermordet hatte“, sagt Kushner. „Von Taten, für die er nie verurteilt worden war. In seinem Gesicht lag etwas, das mich völlig überrumpelte.“ Die Begegnung war der Ausgangspunkt für Rachel Kushners neuen Roman.

Das Buch heißt „Ich bin ein Schicksal“, der Titel nimmt Bezug auf ein Nietzsche- Zitat, was, wie Kushner bedauert, allerdings kaum jemand erkennt. Hauptperson ist nicht der mörderische Cop, sondern Romy Hall, eine 29-jährige Strip-Tänzerin aus San Francisco. Romy hat ihren Stalker getötet und sitzt nun in einem vergitterten Bus Richtung Frauengefängnis Stanville im kalifornischen Hinterland. Nebenbei geht es auch um Thoreau und Dostojewski und die Zubereitung von Knast-Käsekuchen. Und darum, was es heißt, in Amerika arm und weiblich zu sein.

Rachel Kushner trägt Jeans, Goldschmuck und das Haar lang. Vergangene Nacht hat sie nicht besonders gut geschlafen, schuld war die Hitze in ihrem Berliner Hotelzimmer. Nicht, dass sie zimperlich wäre. Kushner wurde 1968 geboren, ihre Eltern waren Biologen und Beatniks, jahrelang fuhren sie im Bus durch die USA. Anschließend zog die Familie in San Franciscos Sunset District, das gleiche Viertel, in dem auch ihre Figur Romy aufwächst.

Spätestens seit ihrem zweitem Roman, „Flammenwerfer“, gilt Kushner als eine der wichtigsten amerikanischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Zweimal war sie für den National Book Award nominiert. „Flammenwerfer“ handelt von New Yorks Kunst-Boheme der Siebziger und von Motorrad fahrenden Mädchen, „Telex aus Kuba“, ihr Debüt, zeigt die Karibikinsel vor der Revolution. Diesmal wollte Kushner über die Gegenwart schreiben. Der Rest kam von allein.

Mit ihrer Familie wohnt sie in Echo Park, einem milde gentrifizierten Viertel von L. A. Bloß einen Spaziergang entfernt liegt ein gigantisches Strafgericht. Den ganzen Tag fahren Busse vorbei. Sie karren die Verurteilten aus den Städten in die Hochsicherheitsbunker im Central Valley, unterhalb der Sierra Nevada. Dort gibt es industrielle Landwirtschaft, giftiges Wasser und kaum Menschen. Wer hier landet, stand vermutlich nie auf der Sonnenseite. „In Kalifornien“, sagt Kushner, „wird eine komplette Bevölkerungsschicht ins Strafsystem gesaugt.“

Auch Romys San Francisco hat wenig zu tun mit Hippies und schmucken Villen. Mehr mit irischen Kneipen, Glasscherben, nebelfeuchten Zigaretten und Jugendlichen, die keinen Plan und wenig zu verlieren haben. In der Schule galt Romy als einigermaßen begabt. Sie nahm trotzdem den Weg des geringsten Widerstands. Im Sunset District beeutet das: Lapdance im „Mars Room“, einem Strip-Club, in dem es schon als Wettbewerbsvorteil gilt, wenn man im Tattoo keine Rechtschreibfehler hat.

„Ich bin ein Schicksal“ ist auch eine Hommage an Kushners eigene Jugend in San Francisco. Zweifellos kennt sie heute die richtigen Leute, den Künstler Richard Prince zum Beispiel oder den Schriftsteller Jonathan Franzen, mit dem sie kürzlich über Tolstoi und Kapitalismus diskutierte. Aber sie kennt auch die mit den zerzausten Lebensläufen, die Aussteiger, kleinen Künstler, großen Träumer. Im Sunset District kam außer ihr niemand aus einem Bildungsbürger-Elternhaus.

„Schon sehr jung wusste ich, dass die Leute, die ich am meisten bewunderte, den Glamour und die Freiheit besaßen, sich selbst zu zerstören. Und ich nicht“, sagt sie. Schon mit 16 ging sie nach Berkeley, um Politische Ökonomie zu studieren. Mitte der Neunziger kehrte sie für ein paar Jahre nach San Francisco zurück. Sie arbeitete in Bars, fuhr eine orangefarbene Moto Guzzi, verdaddelte Zeit. Für die meisten ihrer Freunde lief es da schon nicht mehr besonders. Viele landeten im Gefängnis.

Die Knastwelt im Roman ist absurd und grausam, aber auch düster-komisch. Es gibt ein ehemaliges Strumpfhosen-Model im Todestrakt, einen gescheiterten Akademiker, der versucht, sich seine Lehrposition im Frauengefängnis als Sabbatical schönzureden. Gelegentlich tauchen Tagebucheinträge auf. Sie stammen von Ted Kaczynski, dem sogenannten Unabomber. In den Siebzigern baute er in Montana eine Einsiedlerhütte und verschickte Bomben und Manifeste über die Rückkehr zur Natur. Seine Tagebücher schrieb Kaczynski verschlüsselt, es stehen nur Zahlen drin. Als das FBI ihn aufspürte, transportierte es die komplette Hütte ab. In den Wänden steckte der Nummerncode. Irgendwann wurden die Hefte versteigert und landeten im Besitz des Filmemachers James Benning, mit dem Kushner befreundet ist. Veröffentlicht hat man sie nie. „Ich schätze“, sagt Kushner, „ich bin Ted Kaczynskis Verlegerin. Übrigens zu seinem großen Unmut. Ich höre, er ist sauer.“

Bis vor Kurzem ist Kushner jeden Monat nach Chowchilla gefahren, wo eines der größten Frauengefängnisse der Welt steht. Sie half einer Menschenrechtsorganisation. Inzwischen hat die Gefängnisbehörde sie ausgeladen. Vielleicht, mutmaßt sie, weil sie letztes Jahr eine Journalistin nach Chowchilla gebracht hat. „Vermessenerweise hatte ich erwartet, dass dort niemand den ‚New Yorker‘ liest. Aber irgendwie muss er ins Sacramento State Capitol vorgedrungen sein.“ Ihr Buch hat man in kalifornischen Gefängnissen auch gleich verboten. Will Kushner es trotzdem jemandem schenken, verschickt sie es über Amazon. Es kommt an. Manchmal ist es ganz einfach, eine Gefängnismauer zu überwinden.